Chin State

Der Chin State

Zu den Regionen Myanmars, die touristisch nur wenig erschlossen sind, zählt der Chin State im Westen des Landes, mit Grenzen nach Bangladesh und Indien. Offiziell leben dort 53 ethnische Minderheiten. Es war nicht immer möglich, dort als Fremder frei zu reisen und oft brauchte es dafür Sondergenehmigungen. Gerade herrscht aber Frieden, eine Gelegenheit, die wir ausnutzen. Bergige Regionen erwarten uns und ein Volk, das seine eigene Kultur bewahrt hat. Einige „Zivilisatorischen Errungenschaften“, die für uns eigentlich selbstverständlich geworden sind, wie fließendes Wasser, elektrischer Strom, zeitgemäße Kommunikation, dürfen wir dort nicht flächendeckend voraussetzen. Viele Menschen im Chin Staat leben in ländlichen Gebieten, oft in kleinen Gebirgsdörfern, weit verstreut und nur mühsam, in mehrtägigen Wanderungen zu erreichen. Nicht Wohlstand, sondern Armut und harte Arbeit diktieren hier das Leben, etwa der Anbau von Reis, Hirse und Mais unter schwierigsten Bedingungen. Über seine Grenzen bekannt ist die Tradition der Chin, die Gesichter ihrer Frauen mit grafischen Mustern zu tätowieren. Offiziell ist diese Sitte schon seit den 1960er Jahren verboten. Es ist also eine reine Frage der Zeit, bis auch die letzten Vertreterinnen dieser Kultur nicht mehr existieren.

Das alles beschäftigt uns bereits einige Wochen vor der Abreise nach Myanmar und wir beschließen, die uns unbekannten Gebiete zusammen mit kundiger Begleitung zu entdecken. Denn schon die sprachliche Verständigung droht, enorm schwierig zu werden. Der Veranstalter unserer Wahl ist in Myanmar verankert und verspricht hohe Kompetenz. Dort buchen wir eine Trekkingtour mit 2 Übernachtungen.

Anreise und Einstieg

Die Anreise nach Mindat ist vom Veranstalter organisiert. Wir müssen nur den Abfahrtspunkt des Busses finden. Das ist gar nicht so einfach, wenn der Tuktukfahrer ein verkappter Legastheniker ist und nur so tut, als hätte er die Adresse auf der Visitenkarte des Busunternehmens verstanden. Als wir sein Problem verstehen, bitten wir einen Passanten, ihm die Anschrift vorzulesen. Dann klappt’s.

Fahrten über weite Distanzen sind in Myanmar meist strapaziös. So auch diese. Aber das Langzeitgedächtnis des Menschen speichert ja nur das Positive. Wir brauchen für die Fahrt nämlich keine 9 sondern nur 7 Stunden. Dank unserem versierten Fahrer. Betelkauer zwar, aber er befördert uns sicher und souverän.

Wir erreichen Mindat am späten Nachmittag. Erster Eindruck, es ist rustikal, ein langgezogener Ort entlang der Bergkante. Ein sehr authentisches Myanmar, das wir hier finden. Die traumhafte Landschaft, die am Horizont aufblitzt, werden wir die nächsten Tage erwandern. Wir sind gespannt. Im vorbestellten Guesthouse erwarten wir am nächsten Morgen unseren Guide Naing Htang. Und einen weiteren Begleiter, den Österreicher Stephan.

Tag 1

Start ist um 8:30 Uhr. Auf dem Rücksitz von abenteuerlich anmutenden Motorrädern erreichen wir nach ca. 20 km Rumpelfahrt die Wanderhöhe von 2000 Metern. Achtung, es ist frisch. Für die Fahrt sollte man Winddichtes oder Warmes dabei haben. Der Helm wird gestellt.

Dort, wo keine Häuser mehr kommen und die Straße im weiteren Verlauf nur noch bergab führt, startet der Trek. Es ist vor allem die grandiose Natur, die uns zuerst auffällt. Ab und zu begegnen uns Menschen, die freundlich lächeln. Irgendwann bei einem einfachen Haus halten wir. Die Hauswand ist behangen mit Skelettteilen, Schädeln von Tieren aller Art. Als Schutz vor bösen Geistern. Einige Frauen und Kinder, auch ein paar Männer treten vor das Haus. Wir werden begrüßt wie alte Freunde, mit einem vollen Becher Hirsewein. Als Antialkoholiker hast Du hier einen schlechten Stand; mitzutrinken wird von uns erwartet. Die Herzlichkeit ist ungespielt und vorbehaltlos, als ob man uns adoptieren will. Immer wieder wird nachgeschenkt und mithilfe des Guides versuchen wir, so etwas wie eine Unterhaltung hinzubekommen. Klar, auch mit non-verbaler Kommunikation.

Für die Kinder haben wir Luftballons dabei, die unterwegs immer Begeisterung auslösen und die Herzen der Alten öffnen. Es wäre toll, hätten wir mehr Gastgeschenke dabei, als nur die Überbleibsel von der Tour bei den Kayan. Wir würden den Menschen gerne mehr geben, als nur unser aufrichtiges Interesse, denn nahezu alle Familien, die wir treffen, sind bitterarm. Unser Tipp für den Veranstalter: Bereitet etwas vor, was die Besuchten gebrauchen können. Diese kleine Investition müsste idealerweise im Tourpreis enthalten sein und würde auch unserem Guide eine höhere Akzeptanz verschaffen. 

Ein nächstes Dorf, Horden von Kindern. Hier haben wir Mittagszeit. Unsere Verpflegungspakete, Reis mit Huhn und Gemüse wurden durch einen der Mopedfahrer hergeschafft. Unglaublich, wieviele Kinder sich hier treffen. Mit den Ballons treffen wir ins Schwarze, die Kids jauchzen. Ein Junge fällt uns besonders auf. Er hat eine tolle Ausstrahlung. Stolz präsentiert er sich im BVB-Trikot. Der 13-jährige Omnay hat ja nur dieses eine und er wirkt, als würde er es nie ablegen.

Der Weg ist gut begehbar, technisch gibt es keine Schwierigkeiten. Weiter wandern wir, vorbei an einem kleinen Wasserfall. Hi Laung und Khoun Eim heißen die Dörfer. Ziel ist das Dorf Hpwi, dort werden wir übernachten. Sauber sieht das Wohnzimmer aus, in dem unsere Matten ausgerollt werden. Aber natürlich ist alles recht spartanisch, so wie die Menschen hier eben leben. Ein Nachtlager auf dem harten Boden und Waschen am offenen Fass im Freien. Nix da fließendes Wasser. Auch kein Bucket Shower mit vorgewärmten Wasser. Unser Guide bereitet uns in der Küche über offenem Feuer ein schmackhaftes Abendessen zu. Stundenlang gibt es keinen Strom, doch am Abend geht das Licht an. Und der Fernseher! Der Hausherr will trotz unserer Anwesenheit nicht auf seine Lieblingsserien verrichten. Okay, geht schon. Hier treffen wir das ganz einfache Myanmar.

Tipp für den Veranstalter: Bestärkt die Guides in ihrem Selbstbewusstsein. Wir fühlen uns als Fremde. Unserem Führer gelingt es nicht, eine Kommunikation mit den Hausbesitzern herzustellen. Erst während der nächsten Tagen taut er auf, überwindet seine scheue Zurückhaltung und zeigt, dass er das Zeug hat, eine Gruppe gestandener Trekker zu führen.

Bisher sind wir mit den Tattoo-Frauen nicht so vertraut, um Aufnahmen zu machen, die mehr sind  als ein mechanisches Abfotografieren. Das muss noch besser werden. Wir besprechen das mit unserem Guide und tatsächlich ist die Situation schon am nächsten Tag wie ausgewechselt.

Tag 2

Geplant ist eigentlich eine lange Etappe nach An Laung, Kyar ImNu und Kyar Hle Hlaing. Schon die ersten Stunden sind anstrengend: Es ist sehr heiß, der Untergrund erinnert an den Schotter zwischen Eisenbahnschienen. Die Vegetation nervt, bald sind wir voller kleiner feiner Nadeln. Keiner hat mehr einen Flecken trockener Kleidung am Leib. Unlust befällt uns. Dem Guide entgeht das nicht und er wächst über sich selbst hinaus. Vor einer kleinen Pagode halten wir inne, beraten unsere Optionen. Nach rechts führt der Weg 2 Stunden erst abwärts, dann weitere 3 Stunden bergauf. Nach links dauert es 1,5 Stunden bis zu einem Dorf, wo wir die heutige Wandertour beenden könnten. Eindeutiges Votum: Wir wandern nach links! Die Temperaturen und die hohe Luftfeuchtigkeit machen uns extrem zu schaffen. Wir sind unserem Guide dankbar, dass er den Mut hat, uns einen Plan B anzubieten. Ab jetzt wird alles besser. Die Strecke, die Begegnungen mit den Menschen, das Verhältnis zu Naing Htang und unsere Gemütslage.

Wir landen bald in einem Dorf, wo wir finden, was wir suchen. Unmittelbar nach unserer Ankunft machen wir einen Rundgang, lernen dabei einige Familien kennen, verteilen die kleinen Mitbringsel , die wir noch im Gepäck haben. Toiletten- und Kosmetikartikel für die Großen, Luftballons für die Kleinen. An jeder Tür werden wir eingeladen, mit den Hausbewohnern anzustoßen. Schwierig immer wieder dankend abzulehnen, weil wir an solche Mengen Alkohol nicht gewohnt sind. Zeichensprache und Übersetzungshilfe des Guides schaffen tatsächlich eine lockere Atmosphäre. Man lädt uns ein, am Abend zu einer Gedächtnisfeier für einen Verstorbenen ins Kloster zu kommen. Wir sagen zu. Klar, wann gibt es schon so eine Gelegenheit.

Der Klosterabend kommt für uns chaotisch einher. Drei Veranstaltungen finden gleichzeitig statt, aber irgendwie arrangieren sich die Gruppen: eine Karaokeshow für die Kinder, eine religiöse Zeremonie und eine Feier gut situierter einheimischer Sponsoren einer Stiftung. Wir schnuppern überall hinein, freuen uns an den Gesangauftritten der Kinder, an den Tänzen der Dorfbewohner, die eine überraschende Choreografie aufführen.

Leider schaffen wir es nicht, der Einladung der Stiftungsversammlung zu entkommen, wo wir unser zweites, sehr üppiges Abendessen bewältigen müssen, um nicht als unhöflich zu gelten. Wir verabschieden uns früh, lassen die Menschen unter sich feiern. Aber noch lange bis in die Nacht begleiten und ihre Gesänge.

Tag 3

Der kürzeste Teil der Strecke. Wir sind nur noch 7 km von Mindat entfernt. Aber es wird heute nicht der uninteressante Abschnitt unserer Tour. Auf dem Weg treffen wir einige der Bauern wieder, die wir vom Vortag aus dem Dorf kennen. Man erkennt sich wieder, das Gefühl nicht mehr fremd zu sein, stellt sich ein. Ja, die Menschen machen es uns einfach. Hier in der unmittelbaren Umgebung seines Heimatdorfes kommt unser Guide noch mehr aus sich heraus. Kurze Gespräche, kleine Begegnungen verkürzen die Tour.

Bei einem Laden, der auch als Betelverkaufsstelle dient, wagen wir den Selbstversuch. Ein fertig gedrehter Pfriem findet den Weg in unsere Backentaschen. Schmeckt nicht übel, frische Süße, gewürzt mit leichten Gewürzen. Was es zu beachten gibt ist schnell gesagt: Es gilt zu lutschen, zu kauen und die Aromen abzusuckeln. Bloß den Saft nicht schlucken, der wird ausgespien. Wie es sich anfühlt? Der Hauch von Benommenheit stellt sich ein, aber wir bleiben gut ansprechbar und leicht euphorisiert, wie nach einem doppelten Espresso. Und es bildet sich unheimlich schnell Speichel, der ausgespuckt bereits die typisch rote Färbung hat. Die Wirkung der Dosis vergeht nach etwa einer halben Stunde.

Gegen Ende der Wanderung erwartet uns ein besonderes Highlight. Wir fragen danach und bekommen eine positive Antwort: Ja, es gibt sie noch, die inzwischen legendäre Nasenflötistin. 93 Jahre alt ist sie jetzt, Daw Shwe Me, die Dame vom Stamm der M’kaan einer tibeto-birmanischen Ethnie. Familiäre Gründen haben sie nach Mindat verschlagen und sie ist so etwas wie der ideale Prototypus ihres Volkes. Das Gesicht tätowiert, die Ohrlöcher erweitert und mit schwerem Schmuck behangen. Die Begegnung ist so fantastisch wie unvergesslich. Die kleine agile Dame spielt für uns auf ihrem ungewöhnlichen Instrument und wir sind hingerissen.

Zurück in Mindat fühlen wir uns wie Entdecker. Ein Fazit: Schon wegen dieser letzten Begegnung haben sich alle Strapazen gelohnt. Aber um für eine größere Zielgruppe interessanter zu werden, müssten noch einige Stellschrauben des Tour-Konzepts optimiert werden. Dem Veranstalter trauen wir zu, dass er das hinkriegt.

Ein besonderes Abend

Ein Speiseplan, der es in sich hat: Mal gibt es Reis mit Ei, dann Ei mit Reis und zwischendurch eine Variante, die mit etwas Gemüse oder Huhn angereichert ist. 3 x täglich, an 3 Tagen. Das weckt Fantasien. Nicht beim Guide, der mag es nicht anders, aber bei uns. Über die letzten Wegkilometer reift in unserer kleinen Gruppe ein Plan heran, der sogar das Zeug hat, umgesetzt zu werden.

Dafür besorgen wir in Mindat Zutaten, die wir dreist aber höflich dem Koch des besten Restaurants vorlegen. Kartoffeln, Tomaten, eine Zitrone und ein ganzes, frisch geschlachtetes Huhn. Und ja, es funktioniert. Der Koch des Restaurants bereitet unser Wunschessen. Ein Brathendl an knusperfrischen Kartoffelchips neben einem schmackhaften Tomatensalat. Ergänzt wird dieses Mahl durch einen großen Krug Bier. Unvergesslich für uns und ganz sicher eine Geschichte, mit der wir noch Generationen von Zuhörern unserer Reiseberichte unterhalten werden.

Mindat erweist sich an diesem Abend als Glücksgriff. Nicht zu übersehen, im Ort findet ein Konzert statt. Zufall? Schicksal? Fügung? Wir erleben Liveauftritte einheimischer populärer Musiker, gesponsort vom Bierbrauer „Andaman Gold“. Eine Roadshow, die Pop, Rock, Rap und Metal in die Provinz bringt, angekündigt als „Escape Tour“. Die unübersehbareren Plakate hatten wir zwar bereits entdeckt, aber die Blubberschrift nicht entziffert. Jetzt schallen Songs von John Lennon und Uriah Heep auf birmanisch über den gefüllten Sportplatz und natürlich einheimische Titel. Das Publikum geht begeistert mit. Übrigens, das ganze ist befreit von Eintrittspreisen. Eine klasse Aktion. Mindat und den Chin State behalten wir in bester Erinnerung.

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Yangon, Kalaw und Pindaya, Inle See, Mandalay, Monywa, Bagan, Bago, Golden Rock,   Hpa-an, Mawlamyine, Ye / Dawei / Loikaw, Pyin Oo Lwin,  Shan State, Tanintharyi Region

Der zweite Besuch im Herbst 2019

 

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